(19.09.2005 )
„Ich hatte ständig ein schlechtes Gewissen“
Ein Jahr lang hat er verdeckt in Pflege- und Altenheimen gearbeitet und recherchiert. Er hat erlebt, wie die alten Patienten unter Drogen gesetzt, zwangsgefüttert und absichtlich vernachlässigt wurden. Nun hat Markus Breitscheidel ein Buch geschrieben – eine Geschichte aus unserer Zukunft
Herr Breitscheidel, mehr als ein Jahr lang haben Sie undercover für Ihr Buch in Alten- und Pflegeheimen recherchiert – und offenbar in ein Wespennest gestochen. Rita Süssmuth, Ex-Gesundheitsministerin, die das Buch vorgestellt hat, sagte halb mitleidig, es werde Ihnen sicher viel Ärger bereiten, beim Verlag liegt die erste Androhung einer einstweiligen Verfügung…
… die keinen Erfolg haben wird. Ich habe schriftliche Belege, Video- und Tonbandaufzeichnungen, und ehemalige Kollegen aus den Pflegeheimen würden im Prozessfall auch aussagen und bestätigen, was ich geschrieben habe. Ich habe ja nicht einfach recherchiert, sondern als Pflegehelfer richtig gearbeitet. Ich habe das selbst erlebt. Nach einem Jahr war ich seelisch und körperlich völlig kaputt und hatte 19 Kilo abgenommen.
Dabei sind Sie ja eigentlich nicht Ermittler und Autor. Eigentlich sind Sie Wirtschaftswissenschaftler und hatten eine Sinnkrise.
Genau. Ich war Verkaufsleiter einer Werkzeugfirma. Gut verdient, Firmenwagen… Aber es war wie überall: Druck von Billigherstellern, ich musste Leute entlassen – ich hab das nicht gut ausgehalten.
Und dann sind Sie Günter Wallraff begegnet, der für seine Undercover-Recherchen berühmt geworden ist, und jetzt auch ein Vorwort für Ihr Buch geschrieben hat.
Ich hatte mit 16 die ersten Bücher von ihm gelesen. „Ganz unten“ zum Beispiel. Ich fand das großartig. Ein Mensch, der Verantwortung für die Schwächsten in der Gesellschaft übernimmt. Und dann musste ich ihm an einem Samstag ein paar Steinbohrer vorbeibringen, Steinskulpturen sind sein Hobby – und blieb sieben Stunden. Ich habe ihm von den Zweifeln an meiner beruflichen Situation erzählt und dass ich großen Respekt vor seinem Lebenswerk habe und so etwas auch gerne machen würde, über die Situation in Altenheimen zum Beispiel.
Wieso ausgerechnet Altenpflege? Damals waren Sie gerade mal 31 Jahre alt.
Seit 1997 gab es ja immer wieder Gerüchte über Gewalt in Altenheimen. Das hat mich sehr beschäftigt. Es gehört nicht viel Fantasie dazu sich vorzustellen, wie es einem selbst ergeht, wenn man nicht mehr leistungsfähig ist in unserer Leistungsgesellschaft.
Einen Monat später hatten Sie schon im ersten Heim angeheuert, in München; Sie hatten gleich das erste Angebot beim Arbeitsamt akzeptiert. Wie war der Anfang?
Der erste Eindruck war Lärm. Mit dem Lärm hatte ich nicht gerechnet. Es ist dort nicht gedämpft wie in Krankenhäusern. Man kann sich die Akustik kaum vorstellen. Wenn man über den Flur geht, versuchen die vernachlässigten Alten um jeden Preis Aufmerksamkeit zu erhaschen. Sie schreien, weinen, schimpfen, versuchen zu klammern, aber ich hatte fast nie Zeit, mich zu kümmern. Augen zu und weiter.
Sie erwähnen im Buch die „Zeitkorridore“, die Pfleger zur Verfügung haben.
Man hat zum Beispiel für einen Toilettengang drei bis sechs Minuten. Das hört sich vielleicht sehr lang an, ist aber je nach Zustand des Bewohners kaum zu realisieren. Das hat zur Folge, dass man selbst Menschen, die noch nicht inkontinent sind, Windeln verpasst. Dann: Oberkörperwäsche acht bis zehn Minuten, Zahnpflege fünf Minuten, mundgerechte Zubereitung der Nahrung drei Minuten. Aber wenn Personal fehlt, und das fehlt fast immer, bleiben die Letzten im Zeitplan sowieso ungepflegt im Bett liegen.
Sie erzählen im Buch von einem Heim, in dem einige schon um vier geweckt wurden.
Das war in Hamburg. Da hatte die Heimleiterin ausgerechnet im Frühdienst Personal eingespart. Da sollte plötzlich eine einzige Kraft 28 Bewohner waschen, das hätte sie nie geschafft. Also musste der Nachtdienst schon mal vorarbeiten.
Und wie viel Personal ist vorgeschrieben?
Bei mir lag das Pensum, außer in einem Heim, immer zwischen zwölf und 26 Bewohnern pro Dienst – vorgeschrieben sind, je nach Pflegestufe, sechs bis acht. Es gehen viele Heimleiter hin und sparen Personal, um den Gewinn zu maximieren.
Wird das nicht überprüft?
Die Pflegekassen sind so freundlich anzunehmen, dass jedes Heim sich an den gesetzlich vorgeschriebenen Personalschlüssel hält. Und die staatliche Heimaufsicht muss sich in allen Bundesländern bis auf Bayern 14 Tage vorher schriftlich anmelden. Bis dahin sind natürlich alle Dienstpläne geschönt; es stehen Kollegen drauf, die nie da waren.
Das wäre Sozialversicherungsbetrug.
Genau. In dem Heim in Köln war es so, dass fast 50 Prozent der Leute auf dem Dienstplan Phantomkollegen waren. Ich habe mal eine genaue Rechnung aufgestellt. Es waren damals genau 72 Bewohner im Heim, die insgesamt 107 Stunden Pflege am Tag brauchten – im Jahr also 39055 Stunden. Laut Pflegekasse kann eine Kraft 1226 Stunden im Jahr leisten. Um also 39055 Stunden Pflege im Jahr anbieten zu können, hätte der Heimleiter 32 Vollzeitkräfte einstellen müssen. Es waren aber nur 13 da – 19 zu wenig.
Auf Ihrer eigenen Station hatten Sie und Ihre Kollegen 25 Bewohner mit täglich 53 Stunden Pflege zu versorgen – geschafft haben Sie aber nur 23 Stunden. 30 zu wenig.
Richtig. Für diese 30 täglich nicht geleisteten Stunden wurden aber pro Jahr 484535,50 Euro kassiert. Und dann gibt es noch eine Möglichkeit des Betruges.
Welche?
Das System sagt: Je pflegebedürftiger eine Person ist, umso mehr Geld gestehen wir ihr zu. Liest man das mit den Augen dessen, der ein privates Heim betreibt, der also Gewinn machen will, dann fördert das System den Missbrauch. Denn: Mit weniger Einsatz verschlechtert sich der Zustand des Bewohners, dadurch kommt er in die nächste Stufe – und der Unternehmer hat zum einen am Personal gespart und bekommt zum anderen nun noch mehr Geld. Im Hamburger Heim wurde jeder Neuling innerhalb der ersten drei Monate um eine, wenn nicht zwei Pflegestufen aufgestockt. Menschen, die mit Beckenbruch in dieses Heim kamen, um aufgebaut zu werden, um Reha zu bekommen, wurden da bewusst liegen gelassen.
Und das Personal geht an der Überlastung zugrunde.
Die psychische und physische Belastung ist gigantisch; und wer aufmuckt, wird nicht selten rausgeworfen. Ich ging morgens in den Dienst rein und wusste schon, ich würde nicht alle Aufgaben erfüllen. Es war eine einzige Hetzerei zwischen Pflege, Essen eingeben, putzen. Akkordarbeit am lebenden Menschen. Und erst wenn ich heimkam, merkte ich, was ich alles vergessen hatte. Getränke auszuteilen, Essen. Dabei war es oft sowieso nur Suppe oder Pudding.
Pudding zum Abendessen?
Pudding ist schnell einzuflößen. Bei den 26 Bewohnern, die ich in Köln gepflegt habe, waren acht nicht in der Lage zu essen. Wenn ich denen richtiges Essen hätte eingeben müssen, was 15 bis 20 Minuten dauert, wenn ich es human mache – das hätte zeitlich nicht hingehauen.
Sie sagen das so komisch: human.
Es geht ja auch anders. Das habe ich in München erlebt, Spätdienst. Der Frühdienst war nicht fertig geworden, und wir sollten im Eiltempo noch zehn Becher Pudding eingeben. Sie waren aber noch zu heiß. Ich bin dann zurück ins Stationszimmer, hab gemeldet, ich warte lieber noch. Da ist die Stationsleiterin wütend sofort ins nächste Zimmer, zur Bewohnerin hin, hat ihr die Nase zugehalten, den Kopf zurückgelegt und den Pudding zwangseingeführt.
So wie Sie Ex-Kollegen zitieren, die von Patientinnen als „die Alte“ sprechen, „der zeige ich, wer hier das Sagen hat“, gewinnt man den Eindruck, im Pflegebereich arbeiteten viele Sadisten. Reden die wirklich so?
Das sind eben die Menschen, die gezwungen werden, diese Arbeit zu machen. Hier war es eine Frau aus der Nähe von Leipzig, gelernte Werkzeugmacherin. Das Arbeitsamt hatte ihr eine Umschulung zur Altenpflegerin angeboten mit dem Versprechen, dass sie dann in der Heimat einen Arbeitsplatz fände. Sie hat also umgeschult, fand aber dann in der Heimat doch keine Arbeit und musste nach München umziehen. Das war ihre Lebensenttäuschung. Dass solche Menschen nicht motiviert sind, mit Hilfebedürftigen umzugehen, ist nachvollziehbar. Man kann nicht jedem Menschen ein soziales Verständnis beibringen.
Und wenn man sich wehrt? Es ist doch nicht jeder im Pflegeheim hilflos.
Ja, aber sich zu wehren, ist unter Umständen nicht ungefährlich. Ich will nur ein Beispiel aus Köln nennen. Eine 72-jährige Lehrerin, die sich oft beschwerte, saß immer ganz provokant, wie das Personal meinte, im Aufenthaltsraum und führte Tagebuch. Wir dachten: Da trägt sie jetzt ein, was hier schief läuft. Das hat die Heimleitung sich zwei, drei Tage gefallen lassen, dann wurde beschlossen, bei dieser Frau die Dosierung der Beruhigungsmittel nach und nach zu erhöhen.
Meinen Sie, so was geschieht verbreitet?
Leider wird meine Recherche gestützt von einer neuen Statistik des Sozialverbands, der von 10000 Toten pro Jahr auf Grund von Vernachlässigung spricht und von 400000 Gewalttaten.
Sie sagen, das Hauptproblem der Altenpflege ist die Pflegeversicherung, weil die damit einhergehende Privatisierung Missstände begünstigt. Wieso?
Vor Einführung der Pflegeversicherung hat der Heimplatz im Monat so um die 1800 Mark gekostet, weil kostendeckend gearbeitet wurde – mittlerweile kostet er bis zu 3500 Euro. Das bedeutet: Weil es die Pflegeversicherung mit der Privatisierungserlaubnis ermöglicht, gewinnorientiert zu arbeiten, ist da ein enormer Markt eröffnet worden – und der weckt natürlich großes Interesse. Mittlerweile sind über 40 Prozent der Heime privat geführt, vorher waren es etwa sechs. Ein anderer Nachteil der Privatisierung ist, dass die sozialen Extragelder wie der Wochenendzuschlag wegfallen. Der Lohn ist so durchschnittlich um 30 Prozent niedriger geworden. Er liegt jetzt bei 850 Euro netto. Ohne die Menschen aus anderen Ländern wäre unsere Pflege am Ende.
Ein Heim unter fünfen hat gut abgeschnitten. Das Pro Seniore-Heim in Berlin, am Ku’damm. Warum klappt es da?
Ich möchte hier keinen pauschalen Freispruch für Pro Seniore erteilen. Es liegt immer an der sozialen Einstellung des Heimleiters, und die ist sehr ausgeprägt in diesem Fall. Er hat den kompletten Pflegebereich in eine gemeinnützige GmbH ausgegliedert und arbeitet kostendeckend, das heißt, dass das Geld, das in die Pflege bezahlt wird, auch tatsächlich bei Patienten und Personal ankommt. Die Bewohner werden nicht nur gepflegt, sondern auch gefördert, mit Beschäftigungsprogrammen, Ausflügen. Das nennt sich aktivierende Pflege. Nicht nur satt und sauber, sondern auch rege. Es gibt interne Kontrollen und Fehleranalysen, und das Personal wird geschult und unterstützt. So kann man auch ein persönliches Verhältnis zu den alten Leuten aufzubauen. Das tut sehr gut.
Sie schreiben aber, dass viele Pfleger absichtlich keine privaten Bindungen zulassen, nicht aus Bosheit…
…sondern aus Selbstschutz. Die psychische Belastung wäre sonst noch größer. Ich hatte ständig ein schlechtes Gewissen; das kommt irgendwann bei jedem Pfleger, der in einem schlechten Heim arbeitet. Da reduziert man den Bewohner eben auf eine Zimmernummer, schaut ihm nicht in die Augen, sagt nicht mal guten Morgen.
Eigentlich sind die Missstände ja bekannt. Vor zwei Jahren hat das Gesundheitsministerium deshalb schon einen „Runden Tisch Pflege“ gegründet, mit Vertretern aus Ländern, Praxis und Wissenschaft. Vor ein paar Tagen haben sie ihre Empfehlungen vorgestellt – die aber leider sehr allgemein geblieben sind. Wie sähen Ihre aus?
Man muss die Heime zu einer Sozialbilanz zwingen. Sie müssen die Pflegekräfte in den Dienstplänen mit ihren Sozialversicherungsnummern angeben und gegen die Pflegestunden aufrechnen können. Dann sollte man Polizei-Sondereinheiten bilden, die sich spezifisch mit Sozialbetrug beschäftigen. Und: Weg von der Privatisierung, wieder hin zur Kostendeckung. Warum soll man aus dem sozialen Bereich noch Gewinne erzielen?
Was würden Sie Leuten raten, die sich ein Heim anschauen, für Mutter oder Vater?
Sie sollten sich auf keinen Fall von hohen Preisen oder luxuriösen Fassaden blenden lassen; oft sieht schon der erste Stock anders aus. Sie sollten sich durch das ganze Haus führen lassen. Auch in die Bäder schauen. Sind sie behindertentauglich? Viele sind es nicht. Und ich halte es für äußerst wichtig, sich als Angehöriger die ersten 14 Tage Urlaub zu nehmen und jeden Tag da zu sein, zur Kontrolle.
Das Gespräch führte Christine-F. Röhrs
Markus Breitscheidel: „Abgezockt und totgepflegt. Alltag in deutschen Pflegeheimen“. Mit einem Vorwort von Günter Wallraff. Econ Verlag 2005, 240 Seiten, 16,95 Euro.
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