Aus der F.A.S. vom 18.12.05
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat geschrieben:
Das Märchen vom Übergewicht
Mit Sorgen denkt mancher schon an die Tage nach dem Fest. Dann zeigt die Waage wieder mal ein bißchen mehr. Aber ist das wirklich so schlimm?
Von Magnus Heier
Wer zu viel ißt, wird dick, wer dick wird, wird krank und ist auch noch selber schuld daran. Und was tut man gegen Weihnachts- und sonstigen Speck? Natürlich abnehmen. Und zwar durch Sport und Diät. Alles das sagt uns schon der gesunde Menschenverstand. Aber sind diese und andere Ernährungsweisheiten deshalb schon richtig?
Süßstoff macht schlank
Zuckerersatzstoffe wie Saccharin oder Neohesperidin sind praktisch kalorienfrei. Keine Kalorien, kein Energiegehalt, also auch nichts, wodurch man Gewicht ansetzen könnte. Vielleicht machen Süßstoffe aber sogar eher dick als Zucker. Wie das? In der Theorie lautet die Erklärung: Sie regen den Appetit an und führen so auf sekundärem Wege zu einer Gewichtszunahme. Dem Körper wird eine süße Speise vorgegaukelt, die Bauchspeicheldrüse schüttet vermehrt Insulin aus, um den vermeintlich zu hohen Blutzuckerspiegel zu senken. Dadurch wird er wiederum zu niedrig, es entsteht ein übermächtiges Hungergefühl. Stimmt das? Die Hypothese ist nach wie vor umstritten: Mehrere Studien zeigen tatsächlich, daß Süßstoffe eine Erhöhung des Insulinspiegels zur Folge haben und damit ein Hungergefühl auslösen. Andere finden keinen derartigen Effekt. Was aber für die dickmachende Wirkung spricht, ist, daß Null-Kalorien-Süßstoffe in der Schweinemast zugelassen sind. Der streitbare Lebensmittelchemiker Udo Pollmer jedenfalls gibt sich sicher: "Süßstoffe sind als Appetitanreger altbekannt und in der Tiermast bewährt. Auch beim Menschen sind sie eine interessante Option - aber nur, wenn man zunehmen will."
Gute Futterverwerter
Ob Dünne einfach aus demselben Teller Grünkohleintopf weniger Energie herausholen als Dicke, ist umstritten. Wenn, dann wäre auch nicht der menschliche Organismus dafür verantwortlich, sondern die bei verschiedenen Individuen möglicherweise unterschiedlich effizient arbeitende Darmflora. Jeffrey Gordon, der an der University of Washington in St. Louis Darmbakterien erforscht, ist davon jedenfalls überzeugt. Für ihn ist deshalb auch das gesamte Konzept des Kaloriengehalts von Nahrungsmitteln fragwürdig. Denn je nach individueller Darmflora wäre der verfügbare Energiegehalt desselben Essens für verschiedene Menschen ziemlich unterschiedlich. Anders sieht es Gordons Kollege Michael Blaut vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (Dife) in Potsdam: "Wir gehen davon aus, daß die Resorption im Darm bei allen Menschen mehr oder weniger gleich ist", sagt er. Nachgewiesen ist eine unzureichende Verwertung der Nahrung bei bestimmten, seltenen Erkrankungen. Daß einige Menschen fast von allein dick zu werden scheinen, läßt sich aber anders viel besser erklären, nämlich durch den Kalorienverbrauch. Der Grundumsatz der Menschen ist unterschiedlich, das hängt auch mit den Bewegungsgewohnheiten zusammen. In einer kleinen Studie wurden je zehn dicke und schlanke Personen beobachtet und ihre Bewegungen rund um die Uhr aufgezeichnet. Ergebnis: Die Dünnen bewegten sich täglich über zwei Stunden mehr als die Dicken. Selber schuld? Wie man's nimmt. Das Bewegungsverhalten und der Grundumsatz des Körpers scheinen - das haben Zwillingsstudien gezeigt - zum großen Teil in den Genen zu liegen.
Der BMI zeigt, wie dick man ist
Früher wurde die Körperfülle nach dem Broca-Index gemessen: Körpergröße in Zentimetern minus 100 entsprach dem Normalgewicht. Mittlerweile hat sich der Body-Mass-Index durchgesetzt: Körpergewicht geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Metern. Alles über 25 gilt gemeinhin als Übergewicht. Aus gesundheitlicher Sicht sind beide Indizes problematisch, da sie den Körperbau außer acht lassen. Ein durchtrainierter, muskulöser Sportler rutscht beim BMI schnell in den Bereich des Fettleibigen. Viel entscheidender ist die sogenannte Waist-Hip-Ratio - der Quotient des Umfangs von Bauch zu Hüfte, gemessen am Bauchnabel und am Oberrand der Hüftknochen. Hiermit lassen sich zwei Fettverteilungsmuster messen: Der Birnentyp mit ausgeprägtem Fettdepot am Gesäß ist bei gleichem Gewicht und BMI gesundheitlich deutlich günstiger dran als der Apfeltyp mit dickem Bauch. Denn beim Apfeltyp lagern sich die Fettpolster in der Bauchhöhle an - was ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten mit sich bringt.
Ballaststoffe gegen Darmkrebs
Dieses Dogma wurde 1970 von dem Tropenmediziner Dennis Burkitt in die Welt gesetzt - und galt bis vor wenigen Tagen. Burkitt hatte beobachtet, daß Afrikaner sehr faserreich essen und selten unter Darmkrebs leiden. Übersehen hatte er allerdings, daß viele der beobachteten Personen das kritische Darmkrebsalter gar nicht erreichten. Trotzdem hielt sich der Ernährungstip über Jahrzehnte hinweg. Vergangene Woche wurde nun eine Untersuchung vorgestellt, in der 13 Studien mit insgesamt fast einer dreiviertel Million Teilnehmern analysiert wurden. Das ernüchternde Resultat: Eine ballaststoffreiche Ernährung scheint keinen Einfluß auf die Tumorentstehung im Magen-Darm-Bereich zu haben.
Schlanke sind gesünder
Übergewicht geht häufig einher mit erhöhtem Blutdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Fettstoffwechselstörungen und Diabetes. Was hier Ursache und Wirkung ist, ist aber längst nicht so klar, wie häufig behauptet wird. Denn Stoffwechselstörungen oder Diabetes führen oft erst zu Gewichtszunahme. Wer ein solches Problem hat und versucht abzuspecken, bekämpft nur ein Symptom und nicht das Problem. Und wo fängt Übergewicht an? Jüngere Studien legen nahe, daß das angebliche Normalgewicht gar nicht optimal ist. Bisher galt ein BMI von unter 25 als gesund. Jetzt scheint aber nachgewiesen, daß eher der Bereich zwischen 25 und 30 optimal ist. Jedenfalls haben diese vermeintlich Übergewichtigen einer amerikanischen Studie zufolge die höchste Lebenserwartung. Umgekehrt scheint Normalgewicht (BMI zwischen 19 und 25) sogar gesundheitliche Nachteile mit sich zu bringen, besonders aber das für Modelkörper typische echte Untergewicht (BMI unter 19). Unstrittig ist in jedem Fall, daß es bei einem BMI über 40 bedenklich wird. Aber auch solche wirklich Fettleibigen haben häufig eine zugrundeliegende Krankheit, der mit Abspeckversuchen nicht Herr zu werden ist.
Die Abendmahlzeit setzt mehr an
Magen und Darm verwerten zu jeder Tages- und Nachtzeit den gleichen Anteil der Nahrung. Die einzige Nebenwirkung einer nächtlichen Mahlzeit kann Völlegefühl im Bett sein. Die Erfahrung, daß ein warmes Essen am Abend dick macht, ist vielleicht dadurch zu erklären, daß man sich abends mehr Zeit nimmt und größere Mengen ißt. Oder daß man Defizite vom Tag abends mehr als ausgleicht: "Wir neigen dazu, am Tag zuwenig zu essen und das dann durch eine Supermahlzeit am Abend überzukompensieren", sagt Sven-David Müller-Nothmann, Ernährungsberater aus Bonn. "Aber wir haben einen täglichen Bedarf von etwa 2000 Kilokalorien. Wann die aufgenommen werden, ist völlig egal."
Schlank dank richtiger Diät
Unsere Nahrung besteht aus drei Grundbausteinen in unterschiedlicher Zusammensetzung: Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate. Alle paar Jahre wird daraus eine neue Diätempfehlung formuliert. Während das 20. Jahrhundert von fettarmen Diäten dominiert wurde, begann nach der Jahrtausendwende die Zeit der Atkins-Diät mit viel Fett und wenig Kohlenhydraten. Inzwischen gibt es Hinweise darauf, daß eine proteinreiche Nahrung zum Abnehmen führt. "Ein hoher Proteinanteil führt zur schnelleren Sättigung, und die aufgenommene Nahrung enthält dabei relativ wenig Kalorien", sagt Andreas Pfeiffer, der ebenfalls in Potsdam am Dife arbeitet. Außerdem scheint ein hoher Proteinanteil den Energieumsatz nach dem Essen zu steigern. Nachgewiesen ist freilich: Diäten funktionieren fast nie, einem anfänglichen Abnehmen folgt meist wieder eine Gewichtszunahme.
Schön und fit durch Fettabsaugen
Ersteres ist umstritten, letzteres das Versprechen einer verbesserten Gesundheit und schlicht falsch. Der Eingriff entfernt Unterhautfettgewebe. Über die ästhetische Wirkung muß man im Einzelfall urteilen. Für die Gesundheit ist dieses Fett nicht relevant - der Stoffwechsel verändert sich auch nach großem Gewichtsverlust nicht. Entscheidender ist, so eine im New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie, das Fett in der Bauchhöhle, also zwischen den inneren Organen. Wird davon eine größere Menge entfernt, verändert sich auch der Stoffwechsel. Ein solcher chirurgischer Eingriff ist allerdings riskant und als Vorbeugung völlig indiskutabel. Beim normalen Absaugen kommt Fett in der Regel wieder - an anderer Stelle. Oft genau in dem riskanten Bereich der Bauchhöhle.
Man könnte diese Liste noch erweitern. Ein paar Ernährungs- und Übergewichtsweisheiten allerdings stimmen schon. Zum Beispiel die, daß wir um Weihnachten herum, statistisch betrachtet, ein bißchen zulegen. Oder die, daß manche Medikamente dick machen. Oder die, daß Rauchen ein Schlankmacher ist. Ohne daß es deswegen schon gesund wäre.
Über einen Selbstversuch im
Heilfasten berichtet in dieser Ausgabe der Schriftsteller Christian Kracht (Feuilleton, S. 25)
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.12.2005, Nr. 50 / Seite 69