Inferno in den Alpen
http://www.inferno.ch
(Achtung: Etwas langer Bericht, nur für gestandene Ausdauerathleten)
Obschon es den Inferno Halbmarathon schon einige Jahre länger gibt, ist er ein wenig in den Hintergrund getreten, weil der gleichnamige Triathlon einfach viel infernalischer ist. Bei mir stand der Halbmarathon auf dem Programm. Der Halbmarathon geht von Lauterbrunnen via Mürren auf das Schilthorn, dazwischen liegen etwa 2200 Höhenmeter. Der Campingplatz von Lauterbrunnen diente als Startgelände. Als "Attraktion" war ein Wetterfrosch vom Schweizer Fernsehen angekündigt. Er sollte uns eine halbe Stunde vor Start das kommende Wetter brühwarm rüberbringen. Doch gute Neuigkeiten hatte er nicht auf Lager: Zwar hatte es vor knapp einer Stunde aufgehört zu regnen, doch die nächsten Regenzellen seien bereits im Anzug. In den höheren Regionen würde der Regen in Schnee übergehen, zudem gäbe es oben Wind bis 30 km/h. Im Startgelände waren es momentan etwa 11°C, in Mürren um die 6° und auf dem Gipfel um die 0°C. Also nicht allzu prickelnd diese Aussichten. Trotzdem wollte ich kurzärmlig und -beinig starten. In meinem Sommertenue kam mir etwas "underdressed" vor, denn viele Startende waren mit Regenjacke, langer Hose, Wollmütze und Handschuhen ausgerüstet. In Mürren, so machte ich mit meiner Frau ab, wollte ich das Kurzarm- durch ein Langarm-Shirt tauschen.
Pünktlich um 10:15 Uhr ging es los. Der erste KM ging durch das Dorf und war fast flach. Kurz vor dem Bahnhof bogen wir links ab und der erste Anstieg begann. Es ging auf einem Forstweg mässig bergauf so ca. um die 10-11%. Nach 3 km kam bereits der erste Verpflegungsposten. Nach 38 Minuten überholte mich der erste Staffelläufer, die 3er-Staffeln waren 15 Min. nach uns gestartet. Kein Wunder, dass der so schnell ist, beruhigte ich mich, der hat schliesslich schon nach 7 km Feierabend :-). Die Steigung blieb in etwa konstant bis nach dem 6. KM, dann verliessen wir den Forstweg und ein Singletrail führte uns weiter in die Höhe. Dort gab es auch steilere Abschnitte über Wurzeln und Wiesen, die wegen der Nässe ein wenig rutschig waren. Doch das war kein Problem für mich, denn ich hatte meine wasserdichten Gore-Tex-Adidas-Trail-Laufschuhe an, und die haben optimalen Grip auf solchem Untergrund. Kurz nach KM 7 erreichten wir die Grütschalp, von dort aus waren 5 flachere Forstweg-KM bis Mürren angesagt (mit ca. 200 HM, entlang der Schmalspurbahn). Wie schon im ersten Aufstieg hatte es auch hier viele Wolken und tiefliegende Nebelbänke, so konnte man vom sonst herrlichen Bergpanorama nicht viel sehen.
In Mürren drehten wir eine kleine Schleife durch das Dorf und kamen in den Genuss einer Guggenmusik, die mit viel Trommeln heisse Samba-Rythmen spielten. Meine Frau wartete plangemäss mit dem Langarm-Shirt. Da es bereits ein wenig windete, schnappte ich mir auch die Handschuhe. Kurz nach Mürren kam dann der angekündigte Regen. Manchmal nur leicht, dann wieder intensiver. Nun waren wir wieder auf Bergwanderwegen unterwegs und die nächsten grösseren Steigungen liessen nicht lange auf sich warten: KM 14 hatte noch 130 HM, der nächste KM bereits 170 HM und im KM 16 versteckten sich satte 220 HM. Bei einer kürzeren aber besonders steilen Rampe fühlte ich mich wie beim Achillesehnen-Dehnen. Inzwischen war alles nur noch grau um uns herum: Der Boden bestand nur noch aus dunkelgrauem Geröll, der Himmel voller hellgrauen Wolken und Nebel, doch die Sicht war meistens 200-300m, so dass man sich gut orientieren konnte. Zudem hatten die Veranstalter alle 10-20m neon-orange Pfeile auf die Steine gesprayt. Durch den Dauerregen war ich völlig durchnässt und das Wasser floss entlang meiner Beine in die Schuhe, genau in meine wasserfesten Gore-Tex-Adidas-Trail-Laufschuhe! Das "Wasserfest" war nun eher ein Nachteil, denn das Wasser, dass von oben hineinsickerte, konnte nun unten nicht mehr abfliessen.
Ca. alle 2 km hatte es gut sortierte Verpflegungsposten mit sehr hilfsbereiten und freundlichen Leuten. Neben dem sonst üblichen Sortiment, hatten sie auch noch Bouillon und Ovo-Stängel im Angebot. Vor allem die salzige und heisse Bouillon war eine willkommene Abwechslung zu den süssen Getränken. Nach dem Food-Corner bei KM 17.5 galt es einen ca. 70cm hohen Absatz hinunter zu steigen. Da meine Hände bereits mit zwei Getränke-Bechern und Ovo-Stängeln besetzt waren und sich meine Beine wie Gummi anfühlten, kam ich mir etwas hilflos vor. Die darauf folgende Strecke war zwar flach, doch so uneben, dass man jeden Schritt bewusst in den Steinen platzieren musste. Keine leichte Aufgabe bei der nachlassenden Koordination, so war es mehr stolpern als laufen. Doch der nächste Anstieg liess nicht lange auf sich warten. Inzwischen verwandelte sich der Regen immer mehr in Schnee. Meine Beine wurden immer weisser. Jetzt weiss ich auch wieso sich viele Sportler die Beine rasieren: Damit sich der Schnee nicht so leicht in den Haaren festsetzen kann.
Kurz nach der KM-19-Tafel hörte ich in weiter Ferne den Speaker auf dem Schilthorn, aber zu sehen war nix wegen dem dichten Nebel. Noch 2 km dachte ich mir, das tönt zwar nach einem Katzensprung, doch ich wusste, dass die letzten 1.5 km noch 400 Höhenmeter inne haben. Immer öfters konnte ich einen Konkurrenten schnappen, meine Taktik: Zuerst von hinten anschleichen, günstige Gelegenheit abwarten bis der Weg breit genug zum Überholen ist und dann nach vorne resp. oben vorbei schiessen. Das brauchte zwar viel Kraft, doch es machte auch einen Riesenspass und es motivierte mich ungemein, nach weiteren "Opfern" im Nebel Ausschau zu halten.
Dann kam eine Treppe, die in den Fels gehauen war, doch die Tritte waren unregelmässig. Manchmal fehlten gar Tritte, so dass man zwei oder drei Stufen aufs Mal nehmen musste, und dass brannte infernalisch in den Oberschenkeln. Am Ende der Treppe wartete ein Helfer mit Sauerstoffgerät und Maske. Ich musste lachen und überlegte mir, ob dies unter Doping ginge, wenn ich mir hier ein paar Züge Sauerstoff hineinpfeifen würde, und wie fest wohl danach die Post abgehen würde. Doch leider war das Gerät von jemanden bereits besetzt, der es offensichtlich nötiger hatte, und ich hatte keine Lust zu warten, also liess ich es mit dem Selbstversuch bleiben. Unmittelbar danach kam ein Geländekamm, den man überqueren musste. Links und rechts ging es rapid und unwiderruflich in die Tiefe. Aha, dachte ich, deswegen wohl der Sauerstoffmann: Damit man nicht entkräftet in die Tiefe stürzt. Nach dem Kamm tauchte wieder ein Mitkämpfer vor mir im Nebel auf. Ich schätzte, dass es noch ca. 400m bis ins Ziel sind, also nochmals Vollgas! Meine Waden und Oberschenkel brannten zwar wie ein Cheminée-Feuer, doch mein Vordermann kam schnell näher, und vor der 21-km-Tafel hatte ich ihn. Die letzten 100m musste ich dann noch für meinen Ehrgeiz büssen, denn dort gab es nochmals 39 HM, und mir wurde etwas schwindelig, doch ich konnte bereits das Bergrestaurant sehen. Ein Blick zurück und ich sah, das es dem Typen hinter mir noch schlechter als mir ging, also konnte ich mich mit meinem Röhrenblick voll auf die letzte Treppe vor mir konzentrieren. Am Ende der Treppe war ein helles glänzendes Licht, äh nein (falscher Film), es standen eine Hand voll Leute, die sich genau so zu freuen schienen wie ich, denn riefen mir irgendwelche Worte zu. Auch meine Frau stand dort. Jetzt nur noch um das Restaurant rum, denn dahinter war das Ziel.
Geschafft! Wieso hat es eigentlich hier kein Sauerstoffgerät? Zum Glück konnte ich mich an meine Frau anlehnen. Die Luft auf knapp 3000m schien plötzlich doch etwas dünn zu sein. Helfer boten Wolldecken an, doch wir zogen es vor uns ins Innere der Gebäude zu begeben. Dort hatten sie einen "Ruheraum" eingerichtet, wo man sich in geschützter Atmosphäre etwas erholen konnte. Die trockenen Kleider, die man am Start in Säcken aufgeben konnte, lagen auch bereit, zudem hatte es Stühle, Matratzen und Wolldecken um sich etwas auszuruhen. Wieder hatte es diverse Getränke und ein paar Snacks zum Essen.
Management-Summary:
Dieser Berglauf hat es in sich. Besonders infernalisch ist, dass es gegen das Ende immer steiler und die Luft immer dünner wird. Verpflegungsposten hat es genügend und die Helfer sind voll motiviert. Z.B. beim Posten bei KM 17.5 vergehen vom ersten Halbmarathoni bis zum letzten Triathleten über 8 Stunden. Und das auf über 2000m ü.M. bei Wind und Wetter. Auch das ist eine respektable Leistung! Leider machte dieses Jahr das Wetter nicht so mit und versperrte so die Aussicht auf das Alpenpanorama. Schade! Noch viel mehr werden die Trias unter diesem Wetter gelitten haben, denn das nass-kalte Wetter belastet den Athleten auf dem Road- und Mountain-Bike viel mehr, als beim Berglauf. Das schlägt sich auch in der DNF-Statistik wieder: Von 231 gestarteten männlichen Trias erreichten gerade noch deren 107 den Gipfel. Bei den Frauen waren es sogar nur 6 von 22, die zuoberst ankamen. Wenn ich mir die Resultatsliste ansehe, dann vermute ich, dass auch die Cut-Off-Zeiten happig angesetzt sind. Das ist aber auch verständlich, denn das Risiko in den Bergen bei Wind, Wetter und Dunkelheit ist nun mal nicht zu unterschätzen.
Grüsse
Thomas/22.08.2005