sehr interessant finde ich den wissenschaftlichen Newsletter von Edubily zum Thema:
Hallo ... ,
der Grund, warum man mit der Zeit ein bisschen bissig wird, ist, dass
einen manche Mechanismen inzwischen ziemlich ärgern. Mechanismen, die
auch beim Thema
Coronavirus greifen. Viele Menschen sind in ihrem Denken mittlerweile so eingefärbt, dass sie – ob sie es wollen oder nicht – in gut und schlecht
einteilen. Deshalb gibt es ganz schnell nur noch die
Verschwörungstheoretiker und „die richtige Wissenschaft“ auf der anderen
Seite. Und das, obgleich es – zumindest in unseren Augen und bei den
Quellen, die wir sichten – kaum echte Verschwörungstheorie gibt.
Viele Menschen verstehen nur nicht, dass echte Wissenschaft ist, einen bestimmten Wert zu
finden,
der „die Wahrheit“ abbildet. Und um diesen Wert schwanken momentan
viele Vermutungen, Spekulationen und erste echte, aufschlussreiche
Ergebnisse. Zum jetzigen Zeitpunkt darf und kann es kein definitives
Richtig oder
Falsch geben –
wer so denkt, denkt eben gerade nicht wissenschaftlich.Wie beim Thema Ernährung und Co. zeigt sich auch beim Thema Coronavirus: Es scheint nur noch „echte Wissenschaft“, evidence-based, zu geben und jene, die an Esoterik und das Alternative glauben oder gar "Leugner" sind.
Was ist eigentlich "evidence-based"?Der Punkt ist nur: Evidence-based (nach David Sackett) bedeutet eben
nicht, eine Datenlage derart aufzublähen, dass es nur
eine Schlussfolgerung geben kann. Evidence-based
stellt viel mehr jenen Menschen in den Vordergrund, der vor dem
Hintergrund seiner fachlichen Expertise und auf Grundlage der ihm zur
Verfügung stehenden Daten – auch wenn die Datenlage dünn ist – die
besten Entscheidungen für den Patienten oder, in unserem Bereich, den
Leser treffen muss.
Was wir aber stattdessen sehen: Viele
sind einfach nicht gut darin, auf Grundlage einer vorhandenen, wenn auch
spärlichen Datenmenge Schätzungen, s. g. Extrapolationen, abzugeben.
Sie stützen sich stattdessen krampfhaft auf die wenigen Daten. Tatsache
aber ist, dass eine Datenlage zumeist derart kontextabhängig ist, dass
ein „Experte“ immer schätzen muss – man kann es auch so ausdrücken: Ein
Wissenschaftler ohne Gespür für die Materie und ohne Fantasie, ist ein
schlechter Wissenschaftler. An diesem Punkt trennt sich oft die Spreu
vom Weizen.
Und genau das ist das, was wir derzeit in
der Coronakrise erleben. Die Datenlage ist (noch) dünn, und eine
Vielzahl an verschiedenen Wissenschaftlern mit unterschiedlichsten
Hintergründen und Kompetenzen müssen extrapolieren. Nicht mehr, nicht
weniger. Und da gibt es dann jene, die sehr konservativ, ängstlich
schätzen, und andere, die ein bisschen offensiver und mutiger schätzen.
Manche schätzen ein bisschen globklotzig, andere haben offensichtlich
mehr Gespür für das, was passiert. Und viele überstrapazieren ihren
eigenen Kompetenzbereich.
Momentan befinden wir uns in der Phase
einer Wahrheitsfindung, und alles, was wir jetzt herausfinden, sehen
oder fühlen, schwankt – mal weit entfernt, mal nah – um einen Wert, der die Wahrheit abbildet. Das ist ein wissenschaftliches Vorgehen.
Es darf und muss verschiedene Strömungen geben Was jetzt in der allgemeinen
Verunsicherung zudem passiert, ist – an das Buch „Schnelles Denken,
langsames Denken“ von Daniel Kahneman angelehnt –, dass manche Menschen
im System 1 des Denkens hängen bleiben, also konstant emotionalisiert sind, und andere Menschen schneller in das System 2 des Denkens kommen, in der sie rationaler und klarer sehen.
Alleine aus diesen beiden Faktoren, also
aus der Vielzahl an „Strömungen“ mit Blick auf die Wahrheitsfindung und
den beiden unterschiedlich genutzten Denksystemen, resultieren viele
(soziale) Phänomene, die man jetzt erleben kann. Ein Phänomen ist, dass
es plötzlich unterschiedliche Realitäten gibt. Es scheint plötzlich ein
„Normal“, also eine dominante, vorherrschende Realität zu geben, und
eine, sagen wir, „alternative Realität“. Doch wie kann sowas sein? Wie
kann es sein, dass es einen Meinungsschwerpunkt gibt, den man als
Verfasser von Texten durchaus spüren kann, obwohl die tatsächliche
Datenlage eher Meinungspluralität fördern müsste?
Kognitive Verzerrungen: Wir müssen vorsichtig beim Bewerten seinStattdessen passieren andere Sachen, die
vor allem aus einer selektiven Wahrnehmung resultieren. In der
Wissenschaft hat das einen Namen – so eine selektive Vorfilterung nennt
man
Bias, kognitive Verzerrungen.
Bias finden wir momentan bei den Daten
selbst: Viren, auch wenn sie eher harmlos sind, schlagen vor allem bei
vulnerablen, sprich besonders anfälligen Personengruppen rasch und
heftig ein, weswegen die Fallsterblichkeit (case fatality rate) zu Beginn einer Epidemie dramatisch überschätzt wird. Statistisch betrachtet ist das dann eine Form von selection bias,
weil das Virus auf diese Weise die Statistik verzerrt. Daher haben wir
von Beginn an darauf hingewiesen, dass wir das, was wir live vor allem
in China mitverfolgen konnten, nicht für bare Münze nehmen dürfen.
Auch findet man momentan häufig ein observer bias.
Wir kennen die Umstände nicht, warum das Virus beispielsweise in New
York oder Bergamo so eingeschlagen ist. Wir sehen nur, dass viele
Menschen gestorben sind. Daraus schließen wir pauschalisierend, dass es
„schlimm“ ist und auch uns so schlimm trifft. Dabei sehen wir schon mal
nicht, ob es „an“ oder „mit“ war, wir sehen die vermeintlich kleinen,
wichtigen Details nicht – etwa den sozialen Umgang, demographische
Situationen, den Gesundheitsstatus der Bevölkerung, ggf. Fehler im
Umgang mit dem Virus selbst, und andere Voraussetzung, die es zum
adäquaten Bewerten einer Situation braucht. Tatsächlich ist es so, dass
viele Menschen sich die Mühe dieses Aufdröselns auch gar nicht machen
wollen.
Was unsere eigene Wahrnehmung angeht, unterliegen wir aktuell vor allem drei Bias:
- Confirmation bias: Wir lesen und sehen nur das, was wir glauben bzw. verstehen.
- Availability bias: Die meisten Menschen lesen nur das, was Medien ihnen vorgefertigt präsentieren.
- Authority bias: Wir suchen uns einen Virologen, der uns besonders gefällt, und schenken ihm unser Vertrauen.
Und wem es noch nicht aufgefallen ist: Die
dominante, vorherrschende Meinung wurde in erster Linie deshalb so
geformt, weil unsere komplette Informationslandschaft mit Blick auf die
Faktenlage von Beginn an verzerrt war – es konnte wegen der mangelnden
Datenlage auch gar nicht anders sein.
Auch eine Art von kognitiver Verzerrung ist, dass momentan alles ganz
„besonders neu“ wirkt. Neues Virus, neue Erkrankung, immer neue Details,
neue Horrormeldungen. Da ist plötzlich die Rede von Hirnentzündung,
Arterienentzündungen ... und was es da sonst noch alles so gibt.
Plötzlich soll dieses Virus sogar jungen Menschen, ganz unerkannt, also
quasi nebenbei, schwere Lungenschäden machen. Gott sei Dank dröseln wir
all die uns bekannten Krankheiten nicht derart auf, denn das würde
vielen Leuten ganz extreme Ängste bescheren – und selbst, wenn es „nur“
das ist, was herkömmliche Viren in uns anrichten könnten. Alles
ist abhängig von der Ausprägung einer Krankheit, und das ist wiederum
abhängig von Bedingungen, die Wahrscheinlichkeiten formen. Ohne ein
(statistisches) Bezugssystem, sind solche Detailanalysen mehr oder
weniger wertlos.
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