Mein Vater ist so gut wie blind, durch eine Krankheit, die mit den Jahren immer schlimmer wird.
Retinopathia pigmentosa mit gleichzeitiger Makuladegeneration; das Sichtvermögen verschlechtert sich vom Rand zur Mitte hin. Zu Beginn schaut man durch eine Klopapierrolle, dann eine Küchenrolle, und so weiter- bis zum Gewehrlauf. Teilweise kann es passieren, dass man Menschen mit Blindenbinde am Arm im Park sieht Zeitung lesen- die räumliche Orientierung ist halt komplett weg, aber mitunter klappt's mit den einzelnen Wörtern noch.
Bei ihm war (und ist, wird ja immer schlimmer, wobei sich soo viel nemmer verschlechtern kann...) es auch sehr, sehr schwierig, ihn davon zu überzeugen, sich helfen zu lassen.
Man möchte sich sein autarkes Dasein um jeden Preis erhalten, und je älter man wird, desto weniger möchte man eine Veränderung des Altbekannten akzeptieren und anderen zur Last fallen. Unfälle werden das ändern- je häufiger man sich was tut oder irgendwo gegen läuft, desto eher "sieht man es ein", so hart es klingen mag.
Ein Kampf war, meinen Vater dazu zu bringen, eine Binde am Arm zu tragen. Dieser kleine, gelbe Kreis mit den drei Punkten drin hilft aber ungemein; natürlich stempelt man sich selbst als "behindert" ein (und das zu akzeptieren muss ungeheuer schwer fallen!), aber so werden andere auf einen aufmerksam und unterstützen einen gegebenenfalls.
Kleine Detailangaben helfen auch, sich zurechtzufinden; intuitiv zähle ich heute (fast) jede Treppe mit, einfach, weil ich mir angewöhnt habe, meinem Dad nebenbei die Anzahl der Stufen durchzugeben. So kann er ohne Probleme treppensteigen- sonst ist's ja ein ständiges Tasten und Voranfühlen.
Blindenstock ist eine sehr wirksame, gut funktionierende Sache, sollte jedoch professionell erlernt werden. Er erleichtert Orientierung und Wegfindung sehr, insbesondere das Vertreten am Bordstein, Fallen an Rinnen etc. wird dadurch sehr gut verhindert. Aber: Man muss es wollen, sich auf den Trainer einlassen.
Blindenhund... schwierig. Es bedarf krankenkassentechnisch einer eingehenden Prüfung, ob ein solcher bewilligt wird, man muss seine Blindheit "beweisen", dass man den Hund auch adäquat versorgen kann etc. pp. Da ein solcher inkl. Ausbildung um die 30k Taler kostet, könnte ich mir vorstellen, dass das aktuelle krude staatliche Gesundheitssystem bei einem 82jährigen Menschen etwas dagegen hat.
Braille lernen ist von der Fingerfertigkeit abhängig. Mein Vater hat's mit um die 50 noch so gerade auf die Kette bekommen; sein Leben lang im Einzelhandel zu arbeiten und tonnenweise Getränkekisten zu schleppen ist der Feinfühligkeit der Finger natürlich nicht förderlich. Es kostet vor allem Zeit und, auch hier wieder, Wollen (!), um dort hineinzufinden.
Da er eher ein Akustikmensch ist bekommt er nahezu wöchentlich Hörbücher zugeschickt (es kostet nichts oder nahezu nichts, als Blinder so etwas zu versenden), die er bibliotheksartig leiht und auf einem haptisch gut bedienbaren Player abspielt. Klappt, funktioniert, alles gut.
Für's Lesen (ich weiss nicht, wie gut das noch klappt?) hat er eine Art PC im Arbeitszimmer stehen, eine Mischung aus Projektor mit Kamera und Bildschirm. Legste was drunter, wird's live abgefilmt und in wählbarer Vergrößerung auf dem Bildschirm dargestellt. Hilfreich, wenn man etwas aufschreiben oder einen Brief lesen möchte.
Sprechende Uhren sind lästig! Hatte mein alter Herr auch jahrelang... zeittechnisch (und, ja, wir sind alle extrem zeitbehaftet!) gibt es zwei unvernünftige und eine sehr gute Lösung.
Akustikuhren sind in allen öffentlichen Situationen entweder unhörbar- in der Fussgängerzone ist es zu laut- oder "peinlich"- im Supermarkt sich die Zeit ansagen lassen?; haptische Uhren, deren Glas man abklappt, um die Zeiger zu fühlen, lassen sich zu einfach verstellen.
Via Kickstarter habe ich ein neues Projekt unterstützt und sogleich bestellt. Mittlerweile angekommen, von vielen Leuten als gut befunden worden (mein Madl leitet die Klettergruppe mit behinderten Kindern hier, ein blind-schwerhöriger Junge ist dabei, der sonst absolut abhängig wäre), ist das Eone Time Piece.
Arbeitet mit zwei Stahlkugeln, die sich in einem Titangehäuse drehen. Funktioniert bombig, ist wasserdicht und derart schick, dass sogar ich das Ding in der Stadt getragen habe. Edel, einfach, funktionell.
http://eone-time.com/(nebenbei: Jedem, der in Meetings oft auf die Uhr schauen möchte, das aus Höflichkeitsgründen jedoch nicht kann, sei dieses Ding angeraten)
Um ansonsten Hilfestellungen zu geben: Mütze über'n Kopf und mal ein paar Stunden daheim blind spielen. Ist sehr gruselig, hilft aber, sich einzufinden in die Situation, wie der andere sich fühlt, wie man sich zurechtzufinden hat in verschiedenen Situationen daheim. Erst so kommt man darauf, wie lästig große Bodenvasen und anderer hübscher herumsteh-Tand sind, wie wichtig es ist, dass Schlüssel und Geldbörse an den gleichen Orten liegen müssen, wie eine vertrauenswürdige (!!, man sieht ja nix mehr) Haushaltshilfe das Daheim heimeliger macht (Sanitäranlagen putzen zB geht nur unter optischen Gesichtspunkten.... allgemein putzen. Dreck verschwindet nur, wenn man ihn sieht).
Wie gesagt: Es braucht Zeit, um diesen Prozess des weniger-sehen-Könnens zu adaptieren; Einfühlungsvermögen in der Kommunikation zählen sicherlich dazu. Unfälle werden es schneller ermöglichen, da einem so am ehesten vor Augen geführt wird, wie blöd's ohne ist.
Aber: Den Mut nicht verlieren! Mein Dad hat einen kleinen, sehr feinen Weinladen, den er rein aufgrund von Geschmack und Erinnerung führt. Er ist Vorsitzender des örtlichen Blindenvereins, macht regelmäßig bei Kunstausstellungen mit un ist des öfteren in der Zeitung zu finden.
Er hat sich damit arrangiert, was ein längerer Prozess war. Aber es klappt.
Frag ruhig weitere Fragen.