Doppelpost:
Die Euphorie der Vergänglichkeit
Nein, ich meine nicht die Vergänglichkeit der Euphorie
. Diese Erfahrung habe ich und wohl auch andere bei langen Wettkämpfen schon oft genug erleben dürfen .
Doch wie ist es jetzt gemeint?
Das Jahr war extrem unterschiedlich. Mal richtig schöne Erlebnisse wie das Schreiben meines Buches, die lieben Reaktionen darauf, meine Charity-Aktion im vierstelligen Bereich, der selbstorganisierte Ironman und manches mehr.
Auf der anderen Seiten hieß es Abschied nehmen. 54 Jahre fühlte ich mich betreut und geborgen. Dann kamen Krebs, Tod und Demenz. Jetzt gehöre ich zu der ältesten Generation in unserer Familie. Ob bald oder später, irgendwann folgt unausweichlich der letzte Schritt, die letzte Aktion. Die letzte Freude mitunter auch schon einige Zeit früher. Passenderweise merke ich heuer wie noch nie die Vergänglichkeit des Körpers. Mal muckt die Plantarsehne, mal die Schulter, Magen und manches mehr. Ganz so leicht austauschbar sind weder die Teile noch das Leben an sich. Man muss aus der vergänglichen Zeit einfach das Beste machen.
Insgesamt bin ich trotzdem immer noch sehr zufrieden. Es könnte viel viel schlechter laufen.Ungeachtet dessen habe ich doch schon seit einigen Wochen das Gefühl, den Traum, für diese Saison ein letztes Zeichen zu setzen. Eine finale Aktion als Symbol nicht freiwillig aufgeben zu wollen.
Dummerweise reizte mich ausgerechnet mal wieder die unwahrscheinlichste Variante am meisten. Nichts Neues
.
Gestern stehe ich um 4.40 Uhr auf und...
...frühstücke, richte meine Sachen und um 5.50 Uhr laufe ich los.
Kurze Hose, ein Kiwami Equilibrium Trail Shirt mit allerlei Gels, Riegeln und 2 noch leeren 500 ml Softflascs bepackt.
Es ist kühl, die Straßen noch weitgehend leer. Wie weit werde ich kommen? In den vergangenen Wochen und Monaten kam ich kaum zum Laufen. Plantarsehne, Radschwerpunkt, zu heiß. Oft genug war der Versuch dann auch schnell beendet. Manchmal erinnerte sich der Körper aber auch an alte Zeiten. Vielleicht ist auch heute so ein Tag?
Ich quere die Neckarbrücke, bin jetzt auf dem Neckartalradweg unterwegs. Nebelschwaden auf dem Fluss. Burgen in Sicht. Die alltäglichen Probleme weit entfernt.
Es läuft gut, ca ein 6.30 min/km Schnitt. Nicht schnell, aber kontinuierlich.
Nach 14 km trinke ich mit einem faltbaren Trinkbecher auf einem Friedhof und fülle auch die erste Softflasc auf. Energiepulver hatte ich schon zuvor eingefüllt.
Weiter. Passend zum Leben sind die 15-25er eine Sturm- und Drangphase. Beschwerdefrei voller Euphorie.
In den dreißigern wird es überlegter, zurückhaltender, doch immer noch tatkräftig. Energie und Stimmung wirken. Wasser auf einem öffentlichen WC in Eberbach nachgefüllt. Noch ist nicht Schluss. Ich trabe weiter, jetzt mit einem 7er Schnitt.
Die Landschaft ist weiterhin traumhaft, die Stimmung gelassen.
Hirschhorn gequert. Marathonzwischenzeit bei 4.48 Stunden. Vor Neckarsteinach wird es holprig und hügelig. In den vierzigern heißt es auch einmal auf die Zähne beissen, durchziehen, auch wenn es nicht mehr so frisch läuft.
Doch es läuft noch.
Die Feste Dilsberg, die 4 Burgen auf der anderen Flusseite, passiert. Das Ziel naht.
Nach 50 km und 5.48 Std. erreiche ich Rainbach.
Wieder ein Zeichen gesetzt, dem Alter, der MS und manch anderem getrotzt
.
Doch ich stutze. Etwas fehlt.
Was?
Es ist nicht die Finishermedaille. Schön, aber nicht so wichtig wie das Erlebnis.
Es fehlt mir das Ziel, das wirkliche Ziel, das von Herzen kommt . Herzblatt
.
Sie fehlt, wartet daheim 50 km entfernt. Vielleicht wurde ich deswegen auf den letzten Kilometern langsamer, weil mich das imaginäre Gummiband zu ihr mich immer mehr bremste?
Es gibt so Augenblicke, da weiß man vorher, dass man jetzt dabei ist, etwas richtig Dummes zu unternehmen. Doch der Zwang, die Verführung ist einfach zu groß.
Ich kann nicht anderes. Ich muss umdrehen. Zu ihr
Mir ist klar, dass es mit meinem Traingszustand bis nach Hause nicht reichen kann, aber ich will mich wenigstens nähern, trabe jetzt mit einem 8er Schritt.
Die 50er sind hart, wie im echten Leben. Jetzt zwickt und zwackt alles Mögliche. Die Lockerheit ist weg.
Gekommen ist die Lebenserfahrung , die Bereitschaft zu beissen, nicht aufzugeben.
Leicht war früher.
Dummerweise ist mein Trinkvorrat jetzt auch etwas knapp, die nächste Auffüllmöglichkeit 12 km entfernt. Ich muss rationieren.
Auch ein Symbol für die fünfziger. Vernunft ersetzt Kraft.
Ich schalte geistig ab, träume.
In den sechzigern kommen die Schmerzen. Kreislauf noch top. Muskulär naja, war schon schlimmer
. Nur die Füße kann ich kaum noch aufsetzen, teils die Sehnen, mehr die geschwollenen Adern, die sich an den Schuhen reiben. Allzu lange kann es nicht mehr gut gehen. Naht jetzt die Rente mit 65?
Im Taubertal kann man bei km 71 offiziell aufhören. So lange will ich auch heute laufen. Also trabe ich weiter. Die gleiche Strecke zurück. Es wird wärmer.
Km 70 in 8.28 Stunden. Finito.
Ja, die 70er sind herb. Oft schon eine Sackgasse, oft auch äußerst beschwerlich im Alltag. Aber eben nicht immer. Auch hier kann es noch schöne Momente geben. Eben anders.
Ich schicke Herzblatt eine Nachricht, ob sie mich abholen mag , sage aber, dass ich bis dahin noch weiter wandere und mich noch einmal melde.
5er Schnitt geht immer, meinte früher Thorsten. Ja, stimmt. Zwar nicht sein 5 min/km, aber immerhin mein 5 km/Std.
Wandern klappt relativ problemlos. Nur meine Füße wollen nicht mehr.
Km 80, ich bin dem Wald entkommen, maile Herzblatt an. Sie verspricht zu kommen .
Bis dahin gehe ich weiter, summe wie üblich in solchen Momenten.
Ja, in den achtzigern geht es meist nicht mehr alleine. Super, wenn man dann eine liebe Unterstützung erhält
.
KM 84. Ich treffe Herzblatt.
Sie ist wirklich einmalig. Sie verzieht keine Miene, als ich zu ihr sage, dass ich jetzt noch 200m zurück und dann wieder her gehen muss, um so auf 84,4 km und damit einen doppelten Marathon zu kommen
.
Nach 11.27 Stunden ist dann endgültig Schluss, ich will mich ja nicht hinmachen, sondern ab morgen wieder meinen Urlaub genießen.
Allen eine hinkefreie Woche.